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Kirchengericht:Kirchengerichtshof der Evangelischen Kirche in Deutschland
Entscheidungsform:Beschluss (rechtskräftig)
Datum:05.02.2024
Aktenzeichen:KGH.EKD I-0124/19-2023
Rechtsgrundlage:MVG.EKD § 51 Absatz 1, § 52 i.V.m. §§ 19 bis 22, 28 und 30, SGB IX § 179 Absatz 4
Vorinstanzen:Schlichtungsstelle nach dem Mitarbeitervertretungsgesetz der Ev. Kirche von Westfalen, 2. Kammer, Beschluss vom 2. Mai 2023, 2 M 40/22
Schlagworte:Umfang der Freistellung der Vertrauensperson der schwerbehinderten Mitarbeitenden
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Leitsatz:

1) Aus § 51 Abs. 1 MVG-EKD in der ab dem 1. Januar 2024 geltenden Fassung folgt kein Anspruch der Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen auf Freistellung nach § 179 Abs. 4 Satz 2 SGB IX.
2) Es kann dahingestellt bleiben, ob § 179 Abs. 4 Satz 2 SGB IX für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anwendbar ist, die nach § 50 MVG-EKD als Vertrauensperson der schwerbehinderten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen gewählt worden sind. Über das Bestehen eines solchen Freistellungsanspruchs haben nicht die Kirchengerichte, sondern die Arbeitsgerichte zu entscheiden.

Tenor:

Die Beschwerde der Schwerbehindertenvertretung gegen den Beschluss der Schlichtungsstelle nach dem Mitarbeitervertretungsgesetz der Evangelischen Kirche von Westfalen - 2. Kammer - vom 2. Mai 2023, Az. 2 M 40/22, wird zurückgewiesen.

Gründe:

I. Die Beteiligten streiten sich über den Umfang der Freistellung der Vertrauensperson der schwerbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
In der Dienststelle sind 650 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigt. 72 dieser Beschäftigten sind schwerbehindert, zusätzlich gibt es 35 schwerbehinderte Menschen, die ihre berufspraktische Ausbildung in einer Einrichtung der Dienststelle erhalten oder erhielten.
Die Beteiligten konnten nach einer Neuwahl der Vertrauensperson der schwerbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keine Einigkeit über den Umfang von deren Freistellung erzielen. Die zu 1 beteiligte Vertrauensperson der schwerbehinderten Beschäftigten verlangte vergeblich die Freistellung im Umfang einer Vollzeitstelle, die zu 2 beteiligte Dienststellenleitung bot den Abschluss einer Vereinbarung über eine Freistellung von 50 % für die Vertrauensperson und 25 % für ihre Stellvertretung an.
Mit Schreiben vom 7. Oktober 2022 erklärte die Beteiligte zu 1, dass eine Einigung nicht möglich sei.
Mit ihrem am 28. November 2022 beim Kirchengericht eingegangenem Antrag verfolgt die Beteiligte zu 1 ihren Antrag auf Freistellung im Umfang einer Vollzeitstelle weiter. Sie hat die Auffassung vertreten, dass sich ihr Freistellungsanspruch nach § 51 Absatz 1 MVG-EKD i.V.m. § 179 Absatz 4 SGB IX ergebe. Die in § 20 Absatz 2 MVG-EKD geregelten Schwellenwerte seien nicht maßgeblich. Die Anwendung der Regelungen aus § 179 Absatz 4 SGB IX sei sachgerecht, weil es zwischen den Aufgaben einer Schwerbehindertenvertretung im staatlichen und im kirchlichen Bereich keine Unterschiede gebe. Zu den zu berücksichtigenden Beschäftigten gehörten auch die Auszubildenden in der Einrichtung der Dienststelle.
Die Beteiligte zu 1 hat beantragt,
festzustellen, dass die Dienststelle der Schwerbehindertenvertretung Freistellung(en) in einem Umfang von 1,0 Vollzeitstellen, ggf. verteilt auf die Vertrauensperson und deren erste Stellvertreterin, zu gewähren hat.
Die Dienststellenleitung hat beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Weder seien die in der Einrichtung der Dienststelle beschäftigten Auszubildenden zu berück-sichtigen noch sei § 51 Absatz 1 MVG-EKD mit seiner Verweisung auf § 179 Absatz 4 SGB IX anzuwenden. Insoweit enthalte nämlich § 52 MVG-EKD eine Sonderregelung, mit der auf §§ 19 bis 22, 28 und 30 MVG-EKD sowie ergänzend § 179 Absatz 6 bis 9 SGB IX verwiesen werde.
Das Kirchengericht hat den Antrag der Vertrauensperson der schwerbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Beschluss vom 2. Mai 2023 zurückgewiesen. Gegen diesen Beschluss, der der Beteiligten zu 1 am 26. Juni 2023 zugestellt wurde, hat diese mit Schriftsatz vom 5. Juli 2023, am selben Tage beim Kirchengerichtshof eingegangen, Beschwerde eingelegt und zugleich die Verlängerung der Frist zur Begründung der Beschwerde beantragt. Nach Verlängerung der Frist bis zum 6. September 2023 hat die Beteiligte zu 1 die Beschwerde mit Schriftsatz vom 6. September 2023, eingegangen beim Kirchengerichtshof am selben Tage, begründet.
Die Beteiligte zu 1 meint, dass sich die Freistellung der Vertrauensperson der schwerbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über § 51 MVG-EKD nach § 179 Absatz 4 SGB IX richte. Bei der doppelten Verweisung auf §§ 179 SGB IX insgesamt in § 51 Absatz 1 MVG-EKD und auf § 179 Absatz 6 bis 9 SGB IX in § 52 Absatz 1 Satz 2 MVG-EKD handele es sich möglicherweise um ein Versehen der Gesetzgeberin. Denkbar sei auch, dass die Nennung von § 179 Absatz 6 bis 9 SGB IX in § 52 Absatz 1 Satz 2 MVG-EKD nur der Klarstellung diene, dass diese Vorschriften ergänzend anzuwenden seien. Bei der Freistellung handele es sich nicht um einen Teil der persönlichen Rechtsstellung der Vertrauensperson, sondern um einen Anspruch der Schwerbehindertenvertretung. Auch passe die Regelung des § 20 Absatz 2 MVG-EKD nicht auf die Situation der Schwerbehindertenvertretung. Durch den Verweis auf die staatlichen Regelungen habe die Gesetzgeberin des MVG-EKD klargestellt, dass sich die Befugnisse der Vertrauensperson nach dem staatlichen Recht richten sollten. Es gebe insoweit keinen Grund für eine Differenzierung zwischen staatlicher und kirchlicher Schwerbehindertenvertretung.
Die Beteiligte zu 1 beantragt,
den Beschluss der Schlichtungsstelle nach dem MVG der EvKvW vom 2. Mai 2023 – Az. 2 M 40/22 – abzuändern und festzustellen, dass die Dienststelle verpflichtet ist, für die Tätigkeit der Vertrauensperson der Schwerbehinderten Freistellung in einem Umfang von 1,0 Vollkraftstellen, ggf. verteilt auf die Vertrauensperson und deren Stellvertreter, zu gewähren.
Die Beteiligte zu 2 beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
II. Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
1. Die Beschwerde ist zulässig. Die Beschwerde ist nach § 63 Absatz 1 MVG-EKD statthaft sowie frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden. Der Kirchengerichtshof hat sie zur Entscheidung angenommen.
2. Die Beschwerde ist unbegründet, weil der zulässige Antrag der Vertrauensperson der schwerbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unbegründet ist.
a) Ein Anspruch auf die Freistellung ergibt sich nicht aus einem Verweis auf § 179 Absatz 4 SGB IX in § 51 Absatz 1 MVG-EKD. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Kirchengerichtshof gab es diesen Verweis nicht mehr. Die Regelung des § 51 Absatz 1 MVG-EKD ist zum 1. Januar 2024 dahingehend geändert worden, dass nur noch § 178 SGB IX für anwendbar bestimmt wird. Damit eröffnet § 51 MVG-EKD nicht mehr die Möglichkeit, die Freistellungsregelung des § 179 Absatz 4 SGB IX anzuwenden. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob es sich bei der Freistellungsregelung überhaupt um eine solche der „Aufgaben und Befugnisse“ handelte, wegen derer nach § 51 Absatz 1 MVG-EKD a.F. auf § 179 Absatz 4 SGB IX verwiesen wurde. Das ist zweifelhaft, weil sich die Freistellungsregelung des § 179 Abs, 4 SGB IX in einer Vorschrift befindet, die ebenso wie § 52 MVG-EKD mit „Persönliche Rechte und Pflichten der Vertrauenspersonen …“ überschrieben ist. Demgemäß ist anzunehmen, dass der kirchliche Gesetzgeber die in § 51 Absatz 1 MVG-EKD genannten „Aufgaben und Befugnisse“ nicht auf die Rechtsstellung der Vertrauensperson bezogen hat, die in § 179 Absatz 4 SGB IX geregelt ist. Anders als beim Betriebsrat und der Mitarbeitervertretung handelt es sich bei der Freistellungsregelung in § 179 Absatz 4 Satz 2 SGB IX nämlich um ein Recht der Vertrauensperson selbst, das nur auf ihren Wunsch entsteht. Es handelt sich um eine Berechtigung, die von der Vertrauensperson geltend zu machen ist, damit daraus ein Anspruch wird. Demgemäß ist es fraglich, ob sich diese Berechtigung den „Aufgaben und Befugnissen“ im Sinne des § 51 Absatz 1 MVG-EKD zuordnen lässt. Es spricht mehr dafür, darin einen Ausdruck ihrer Rechtsstellung zu verstehen, die aber in § 52 MVG-EKD geregelt ist. Da ein Verweis auf § 179 Absatz 4 SGB IX nicht mehr in § 51 Absatz 1 MVG-EKD enthalten ist, kann dahingestellt bleiben, ob ein sich etwa ergebender Anspruch überhaupt von den Kirchengerichten entschieden werden könnte.
b) Ferner ergibt sich ein Anspruch auf die Freistellung auch nicht aus § 52 MVG-EKD. Die Vorschrift verweist ebenfalls nicht auf § 179 Absatz 4 SGB IX, sondern nimmt in ihrem Satz 1 die Freistellungsregelungen für die Mitarbeitervertretung in § 20 MVG-EKD in Bezug. Aus dem damit anwendbaren § 20 Absatz 2 MVG-EKD ergibt sich nicht der geltend gemachte Freistellungsanspruch, und zwar selbst dann nicht, wenn nicht auf die Gesamtzahl der Beschäftigten, sondern nur die Anzahl der schwerbehinderten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter abgestellt wird.
c) Schließlich ist ein im vorliegenden Verfahren durchsetzbarer Anspruch auch dann nicht gegeben, wenn § 179 Absatz 4 SGB IX direkt auf Vertrauenspersonen schwerbehinderter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich des MVG-EKD anwendbar wäre. Es kann dahingestellt bleiben, ob der kirchliche Gesetzgeber aufgrund des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts für die Schwerbehindertenvertretung besondere Regelungen vorsehen kann (KGH 5. August 2004 I-0124/H 43-03; Düwell JurisPR-ArbR 49/2018) oder ob die staatlichen Regelungen auch im kirchlichen Bereich jedenfalls neben den mitarbeitervertretungsrechtlichen Vorschriften gelten (Baumann-Czichon/Gathmann/Germer MVG-EKD § 50 Rdnr. 1b und 1c). Ferner kann es dahingestellt bleiben, ob die Anwendung der staatlichen Regelungen davon abhängt, dass die Vertrauensperson auch nach den aus dem SGB IX ersichtlichen Vorgaben gewählt worden ist. Auf beides kommt es schon deshalb nicht an, weil diese Frage nicht vor den Kirchengerichten im mitarbeitervertretungsrechtlichen Verfahren, sondern vor dem für das individuelle Rechtsverhältnis maßgeblichen Gericht zu klären ist, also für privatrechtlich Beschäftigte vor dem Arbeitsgericht. Es geht in § 179 Absatz 4 SGB IX um eine individuelle Rechtsposition des oder der Beschäftigten, der bzw. die die Funktion der Vertrauensperson wahrnimmt. Solche Streitigkeiten um individuelle Rechtspositionen einer arbeitsvertraglich beschäftigten Vertrauensperson sind vor den Arbeitsgerichten zu klären (BeckOK Sozialrecht/Brose § 179 SGB IX Rdnr. 11). Allenfalls für Streitigkeiten mit kollektivem Charakter kommt das mitarbeitervertretungsrechtliche Verfahren in Frage. Dazu gehört aber eine Freistellung nach § 179 Absatz 4 SGB IX nicht, weil diese – wie oben aufgezeigt – individualrechtlich ausgestaltet ist. Nicht die Schwerbehindertenvertretung als solche hat einen Anspruch, sondern nur die Vertrauensperson, die einen solchen Wunsch gegenüber der Arbeitgeberin äußert.